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The Brill in the Box

Lesezeit: 5 Minuten


28.05.2023   Eigentlich sind wir es gewohnt, dass wir während einer Keynote nur noch abhaken, was bereits aus der Gerüchteküche bekannt war. Denn die Gerüchte erwiesen sich in den letzten Jahren oft als akkurat.

Aber die Gerüchte um die mysteriöse Brille sind anders. Sie sind konkret bei Details, die niemand persönlich gesehen hat. Und sie sind nebulös bei Dingen, die eigentlich jedem bekannt sein müssten, der tatsächlich etwas über die Brille weiß.



Vor allem sind die Gerüchte auf eine seltsame Weise offensichtlich. Eine riesige Ski-Brille mit einem Gummiband: Das kann man sich leicht vorstellen. Einen virtuellen Monitor, den man per Augmented Reality direkt neben einen tatsächlich vorhandenen Monitor platziert, kann man ebenfalls sofort verstehen. Beides sind Elemente aus unserer heutigen Welt. Wir schätzen daran ab, wie die Brille in unsere heutige Welt passt.



Doch keine der technischen Revolutionen der letzten Jahrzehnte folgte den offensichtlichen Vorstellungen, die sich bei ihrer Enthüllung sofort aufdrängten. Die Veränderungen waren stattdessen unvorhersehbar. Zwei Beispiele:

  • Das iPhone startete als Kombination aus iPod, Web-Browser und Telefon. Doch alle drei Anwendungen sind auf Smartphones heute kommerziell nebensächlich. Reich geworden sind Facebook, YouTube und Instagram. Niemand hat das vorhergesehen.

  • Als die Telefongesellschaften ihre Netze auf die viel effizientere IP-Technik umrüsteten, führte das nicht zu noch größeren Profiten ihres Telefonie-Geschäfts. Sondern es führte zu dessen Niedergang. Den Erfolg ernteten WhatsApp, iMessage und FaceTime. So kann man sich täuschen.

Warum ist das so? Das ist so, weil technische Revolutionen immer auch die Umstände verändern, in denen sie stattfinden. Das iPhone hat nicht nur das „Telefon“ verändert, sondern die ganze Welt. Das iPhone war erfolgreich, weil es die Umstände veränderte und trotzdem nicht selbst obsolet wurde.



Die Gerüchte um die Brille betrachten das neue Gerät in den Umständen von heute. Und genau deswegen sind sie vermutlich falsch. Zumindest sollte man skeptisch sein.

Eines der überzeugendsten Gerüchte beschreibt einen zusätzlichen virtuellen Monitor, den man bei Bedarf auf den Schreibtisch projizieren kann. Anstatt also knapp 2.000 Euro für ein Apple-Display zu bezahlen, erzeugt man es einfach virtuell. Wir gehen von bekannten Umständen aus: ein viereckiges Display auf einem Tisch.



Aber welcher Entwickler würde bei einer Brille, die eine grenzenlose Rundum-Sicht ermöglicht, ein begrenztes Viereck programmieren und uns vorschreiben, dass alle Inhalte nur innerhalb dieses Vierecks gestattet wären?

Es klingt nach einem plumpen Screen Sharing, das wir von einem Hersteller erwarten würden, der keinen Einfluss auf das Betriebssystem hat und daher mit den vorhandenen Möglichkeiten auskommen muss. Aber Apple? Warum sollten Apples Entwickler all die Mühen auf sich nehmen, um endlich die physikalischen Grenzen der echten Welt zu sprengen — nur um sie dann mit viel Mühe wieder in die virtuelle Welt hinein zu programmieren?



Wenn die virtuelle Welt eins nicht braucht, dann sind es Grenzen. Ich würde eher erwarten, dass man einzelne Fenster aus dem realen Display herauszieht und »irgendwo« platziert. Ein Dokument könnte direkt neben dem realen Display schweben oder so aussehen, als läge es auf dem Tisch. Manches davon werden die Entwickler erst nach und nach verwirklichen können.

Es könnte passieren, dass die Brille das ganze Konzept eines »Displays« verändern oder sogar obsolet machen wird. Meine Generation wurde Zeuge, wie Musik von einem Datenträger zum nächsten wanderte: Vinyl, Kassetten, CDs, Festplatten. Aber heutige Jugendliche fragen sich: »Datenträger? Wieso Datenträger?« Ähnlich könnte es mit Displays geschehen.



Oder mit Apps. Wenn wir heute an eine App denken, dann denken wir an ein Viereck, innerhalb dessen die App stattfindet. Beispielsweise besteht die Karten-Navigation beim iPhone im Prinzip aus einem Viereck und einem Pfeil. — Aber bei der Brille? Wir würden einen Pfeil erwarten, der aussieht als wäre er aufgemalt auf dem realen Boden. Der Pfeil würde zu einem Teil der realen Szenerie, nicht zu einem Teil einer klar umrissenen Box. Wir könnten nicht sagen: »Hier in dieser Box läuft die Navigations-App«.

Es wäre geradezu absurd, wenn wir in der Brille ein Viereck sähen, innerhalb dessen die Navigation liefe. Sondern die App löst sich auf und wird zur Realität.



Dadurch ändert sich vieles. Die klassischen Fenster des Macs hatten eine klare Ordnung: Die Fenster waren hintereinander oder nebeneinander, und kein Inhalt störte den anderen. Das iPhone und das iPad ordneten die Inhalte noch radikaler in separate »Screens«. Alle diese Fenster oder Screens waren gleichberechtigt. Natürlich könnte man dieses simple System auf eine Brille übertragen. Aber viel plausibler erscheint mir, dass die Brille die Umstände verändern wird, die zu diesen Fenstern geführt haben, und dass eine neue Ordnung etabliert wird.

Die neue Ordnung muss zwangsläufig dreidimensional sein, und ihre Inhalte können nicht gleichberechtigt sein. Denn bestimmte Apps benötigen das Privileg, sozusagen den »Hintergrund« zu bilden und mit der Realität zu verschmelzen. Ein Navigationspfeil macht nur Sinn als »unterste« Ebene. Andere Apps werden auf weiteren Ebenen darüber gelegt, etwa ein Browser oder ein Kalender. Auf der untersten Ebene machen »Fenster« keinen Sinn, wohl aber auf den Ebenen darüber.

Doch die Brille ist nicht einfach nur ein Display, bei dem die dritte Dimension hinzugefügt wurde. Noch wichtiger ist die Bewegung im Raum. Das ist ein wichtiger Unterschied zu einem 3D-Display. Denn manche Objekte müssen im realen Raum verankert werden: Bewegt man den Kopf zur Seite, geraten die Objekte aus dem Blickfeld. Ein Beispiel dafür wäre der Navigationspfeil. — Andere Objekte müssen stattdessen im Blickfeld verankert werden: Egal wo man hinschaut bleiben sie stets sichtbar. Ein Beispiel dafür wäre ein Einkaufszettel oder die Moderator-Notizen einer Keynote-Präsentation.



Hier lauern einige knifflige Probleme. Was geschieht, wenn mehrere Apps im Hintergrund angezeigt werden wollen? Man kann nicht einfach alles auf einen Haufen werfen. Vielleicht finden wir hier den wahren Grund für das merkwürdige Design des »Stage Managers«, der zwischen unterschiedlichen »Bühnen« wechselt, also zwischen verschiedenen Kombinationen aus Hintergrund- und Vordergrund-Apps. Vielleicht muss der Anwender festlegen, welche Apps ständig sichtbar sein sollen, und welche auf eine Kopfbewegung reagieren. Vielleicht soll der »Stage Manager« helfen, mühsam festgelegte Setups zu speichern. Man wechselt dann zwischen diesen Setups oder »Bühnen«.

Auf dem Mac können so viele Apps und Fenster gleichzeitig sichtbar sein, wie es der Anwender wünscht. Aber eine AR-Brille darf nicht zu viel von der realen Welt verdecken. Obwohl fast grenzenlos Platz zur Verfügung steht, muss man sehr sparsam sein, was man dem Anwender vor die Nase hält — im wahrsten Sinn des Wortes. Vielleicht wird die Brille ein striktes Regime einführen, wie viele Apps man auf einer »Bühne« platzieren kann, und was man allenfalls in einer Seitenleiste parken darf.



Auf den vielen Bildern, die man dazu im Internet findet, sieht man deswegen nur einzelne Objekte, etwa eine Turbine. Alles scheint sauber aufgeräumt, geradezu klinisch. Aber wo befinden sich Werkzeuge und Befehle? Wo sind Skizzen, Anleitungen, Mails und Notizen, die ein Ingenieur für seine Arbeit benötigt?

Selbst das simple Starten einer App wird man neu gestalten müssen. Denn was geschieht, wenn ich einen Kalender starte? Habe ich die App dann sofort groß vor Augen, sodass ich kaum noch anderes mehr sehe? Am Schreibtisch mag das egal sein. Aber werde ich die Brille irgendwann auch als Fußgänger benutzen können? Dann sollte meine Sicht besser frei bleiben. Wird es deswegen eine Art »Horizont« geben, sodass neue Apps sich anfangs unterhalb meiner Sichtlinie befinden, bis ich sie vergrößere? Für Autofahrer wäre das ideal. Aber Fußgänger würden den Fußweg nicht mehr sehen. Also eher eine Seitenleiste? Oder ein Dock?

Meine Vermutung ist, dass Apples Entwickler sich alle Haare ausgerissen haben bei dem Versuch, solche Probleme zu lösen. Das komplette Fehlen von plausiblen Gerüchten zu diesen Fragen finde ich verblüffend. Auch über das User Interface und die Bedienung ist nichts bekannt. Wenn wirklich jemand etwas über die Brille wüsste, wäre es das erste, was er uns verraten würde.

Die Brille und ihre Software scheinen derzeit die am besten gehüteten Geheimnisse der Technikwelt zu sein.

Über Apples neue Produkte heisst es, sie würden anfangs nur wenig können, dieses aber besonders gut. Meint das genau solche Tüfteleien, wie man eine virtuelle Welt bedienungsfreundlich macht? Beim iPhone gab es anfangs zwar ein paar spektakuläre Apps, die man in dieser Qualität noch nie auf einem »Handy« gesehen hatte. Aber die eigentliche Magie bestand doch darin, wie clever und schön das alles ausgedacht war. Werden wir also bei der Keynote darauf achten, wie nützlich eine bestimmte Anwendung ist? Oder werden wir staunen, wie sich plötzlich eine neue Welt auftut — die aber noch darauf wartet, mit Leben gefüllt zu werden?

Jeder mag hier eigene Präferenzen haben, aber für mich persönlich wird ganz besonders interessant sein, die zunächst unverständlichen Entscheidungen zu verstehen. Warum haben sich Apples Ingenieure für einen bestimmten Weg entschieden, obwohl ein anderer Weg offensichtlicher gewesen wäre?

Natürlich könnte man stattdessen auf YouTube mit weit aufgerissenen Augen und einer dämlichen Fratze verkünden, wie doof Apples Ingenieure sind. Am besten gleich fünf Minuten nach der Keynote. Aber Apples Ingenieure sind nicht doof, und die Probleme sind kniffliger als man auf den ersten Blick annimmt.

Ganz sicher werde ich mich noch lange an den Tag der Keynote erinnern können.

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