Mehr oder weniger das nächste große Ding
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16.04.2024
Was ist besser: Mehr oder weniger? Das ist mehr oder weniger die Frage, vor der die Computerwelt gerade steht. Gleichzeitig ist es aber auch die Frage, jedenfalls mehr oder weniger, vor der die Computerwelt auch im Jahr 2007 stand, und vor der sie auch im Jahr 2027 stehen wird.
Drei Minuten bevor Steve Jobs das iPhone im Jahr 2007 vorstellte, war offensichtlich, dass mehr Buttons auf den damaligen Mobiltelefonen zu mehr Funktionen und zu einer besseren Bedienbarkeit führten. Es gab die zehn Ziffern, aber es gab auch praktische Tasten für weitere Funktionen, die man sich ansonsten mühsam in irgendwelchen Menüs hätte suchen müssen.
Drei Minuten nach der Präsentation von Steve war klar, dass plötzlich das Gegenteil galt: Das beste User-Interface ergab sich, wenn man auf Buttons möglichst verzichtete. Apple entschied sich für einen einzigen zentralen Button auf der Vorderseite des Geräts. Es war gleichzeitig einfacher und leistungsfähiger.
Zehn Jahre später, mit dem iPhone X, entfernte Apple auch noch diesen einsamen Button von der Vorderseite. Anstatt also von Modell zu Modell hier und da etwas anzustückeln, hielt Apple unerbittlich an seiner ursprünglichen Vision fest und brachte sie nur noch mehr zum glänzen.
Mehr oder weniger. Denn abgesehen von den Buttons hat Apple sehr viel hinzugefügt. Nicht nur die Hardware wurde enorm erweitert (mehr Speicher, mehr Pixel, mehr GigaHertz und GigaFlops), sondern auch die Software: Verschiedene »Ebenen« lassen sich über das Display legen und wieder ausblenden (Control Center, Notifications), verschiedene »Screens« wechseln sich ab (Lock Screen, Home Screen, App Switcher) — und die vielen Einstellungen scrollen, hübsch untereinander angeordnet, ungefähr bis nach Düsseldorf. (Wenn man in Dortmund anfängt.)
Die Frage nach dem nächsten iPhone und dem nächsten iOS lautet ganz simpel: Was kann man noch hinzufügen? Wird es ausreichend viel sein?
Falls nicht, falls es zu wenig ist, werden die kleinen Thumbnails bei YouTube mit traurigen Augen und runtergezogenen Mundwinkeln verkünden, dass man sich das Video am besten nicht anschauen sollte, außer vielleicht, um persönlich Zeuge zu werden von Apples Dummheit.
Hier ist mehr also besser.
Ich persönlich finde, hier wäre weniger besser, aber ich bin bei Social Media ein Außenseiter, was ich gerne akzeptiere.
Google
Schauen wir zu Google. Google präsentiert seinen Kunden seit Jahrzehnten nichts weiter als zehn blaue Links. Diese zehn blauen Links könnten tatsächlich das sein, wonach man gesucht hatte. Vielleicht aber auch nicht.
Wie kann man das verbessern? Wäre es besser, mehr zu zeigen? Etwa zwanzig blaue Links? Oder müssten es weniger sein, etwa fünf?
Google verfolgt sein ein paar Jahren ein Projekt, das dem Home-Button des iPhones entspricht: Das Beste wäre, wenn man überhaupt keine blauen Links zeigen müsste, und wenn der Kunde überhaupt keine Auswahl treffen müsste. Sondern Google sollte eine einzige definitiv richtige Antwort ausgeben.
Dieses Projekt (»One True Answer«) ist die Voraussetzung dafür, dass der Siri-Klon von Google kurze, zutreffende Antworten geben kann. In letzter Zeit sieht man die Antwort auch ganz oben auf der Webseite von Google. Es handelt sich dabei nicht nur um kurze Daten wie z.B. das Wetter. Sondern es sind aus Webseiten extrahierte Antworten auf komplexe Fragen, wie zum Beispiel: »Wie entstanden die ersten Helium-Atome?« Google beschränkt sich dabei auf etabliertes Fakten-Wissen, bei dem es zu einer klar definierten Frage eine klar definierte Antwort gibt.
Natürlich könnte man auch drei unterschiedliche Antworten mit leichten Variationen ausgeben, sodass der Kunde mehr Auswahl hat:
Wie viele Monster verstecken sich aktuell unter meinem Bett?
Keine.
Nicht viele.
Höchstens drei kleine.
Aber hier ist weniger eindeutig mehr.
Humane Ai-Pin
Über den missratenen Ai-Pin wurde viel berichtet, auch von Mac-TV. Aber die Aufregung über die schlecht funktionierende Umsetzung überstrahlte eine wichtige Frage, nämlich, wie man das Smartphone übertrumpfen könnte. Humane wählte dabei einen unglücklichen, miesepetrigen Ansatz, der das Smartphone schmähte, anstatt die Überlegenheit des eigenen Produkts zu beweisen.
Aber eines scheint mir einleuchtend zu sein: Wenn die grundlegende Idee eines Smartphone-Killers darin besteht, noch mehr Funktionen in ein winziges Gadget zu quetschen, dann kann es nur scheitern — genauso wie das iPhone gescheitert wäre, wenn es einfach die Buttons der damaligen Handys vermehrt hätte; oder wenn ein Google-Konkurrent doppelt so viele blaue Links zeigen würde.
Immerhin. Der Ai-Pin gibt einem auf die Frage, ob ein Restaurant gut oder schlecht ist, eine klare Antwort: Ja oder nein, oder ein Rating von 4 Sternen. — Wenn ich frage, ob der Supermarkt noch geöffnet hat, dann antwortet es (ebenso wie Siri): Ja, heute bis 21 Uhr. — Wenn ich Herrn Müller anrufen möchte, dann ruft es Herrn Müller an (ebenso wie Siri, genauer gesagt, Siri ruft gerne auch eine Person mit einem ähnlichen Namen an oder startet eine Playlist).
Ist das vielleicht ein genereller Trend, dass wir in Zukunft nicht nur sehr viele Optionen zur Verfügung haben wollen, dass wir aber überfordert sind, die richtige davon auszuwählen — sodass wir froh sind, wenn uns jemand die Entscheidung abnimmt? Ist das vielleicht ein neuer Steve-Jobs-Moment, bei dem jemand die ganzen Buttons entfernt, ohne die Funktionen zu entfernen?
Vision Pro
Apples Superbrille weist in die gegenteilige Richtung. Alles ist mehr, mehr, mehr, mehr, mehr, ein technischer Wahnsinn in jeder nur denkbaren Richtung. Eine technische Glanzleitung, die alles abverlangt, was Prozessoren, Displays und Software heute leisten können. Auch dem Anwender wird einiges abverlangt: hoher Preis, unbequeme Nutzung, Druckstellen, Hitze, zerwühlte Frisuren, Isolation.
Dafür bekommt man 3D statt 2D, das ist mehr. Dafür bekommt man 4k statt 2k, das ist mehr. Fotos werden zur »Experience«, der Desktop-Hintergrund wird zur virtuellen Umgebung, gerne mit einer Mondlandschaft. Mit Sound, das ist mehr. Das Musikvideo wird zum atemberaubenden Erlebnis, ein Schmetterling setzt sich einem buchstäblich auf den Finger (oder was man der Brille stattdessen hinhält, ich habe schreckliche Dinge gesehen).
Man kann Fenster nicht nur vorne anordnen, sondern auch seitlich, oben und unten. Das ist mehr. Sogar hinten. Das ist noch mehr.
Man kann iPad-Apps starten, aber auch native Apps und den kompletten Mac-Desktop. Das ist mehr.
Man könnte eine Tabellenkalkulation so breit ziehen, dass die Spalten bis hinaus auf den Flur reichen. Oder bis runter auf die Straße, bis zum nächsten Supermarkt; und, falls der geöffnet hat, auch bis zur Kasse. Spalten, Spalten, Spalten, mehr, mehr, mehr. Theoretisch könnte man an den Spalten vorbei spazieren wie vor einer Häuserwand; aber nicht nur alleine, sondern mit fünf weiteren virtuellen Teilnehmern, denn das ist noch mehr.
Was die Leute aber mit so vielen Spalten überhaupt anfangen sollen, bleibt unklar. Vielleicht möchten sie einfach fragen: »Was zum Teufel bedeuten diese Spalten für den Erfolg meiner Werbekampagne? Welche Ausgaben haben sich gelohnt? Welche nicht?« — Die Idee, dass die App dann einfach fünfhundert weitere Spalten auswirft, ist absurd. Wir brauchen nicht Spalten, sondern Antworten.
Der Ai-Pin hat als Produkt und Smartphone-Alternative nicht die richtige Antwort gegeben, aber das Team stellte zumindest die richtige Frage. Apples fantastische Ingenieure haben die richtige Antwort gegeben, aber auf welche Frage?
Was ist nun das Next Big Thing? Ist es KI oder die Brille oder ein Pin? Eins scheint mir jedenfalls einleuchtend: Es muss zunächst wieder simpel anfangen. Es muss das, was heute kompliziert ist, einfach machen. Und es muss dennoch mehr können. Das macht es so schwierig. Aber genau das kann Apple besonders gut. Mehr oder weniger.
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